Bild von Shahzin Shajid.
12) Alles aus dem Nichts
Die Erkenntnis, dass uns jegliche objektive Hinweise auf einen möglichen Ursinn fehlen, erscheint zunächst einschüchternd. Wir stehen mit unseren Leben vor dem Nichts und haben dennoch den Drang, eben dieses Nichts während der Suche nach dem Ursinn mit einer temporären Bedeutung zu füllen. Wir brauchen in unserem Leben etwas, an das wir glauben und das unser Bedürfnis nach Sinn zwischenzeitlich befriedigt.
Dementsprechend einflussreich und gleichzeitig gefährlich ist die Fähigkeit bestimmter Menschen, Sinn aus dem Nichts zu schaffen. Diejenigen Menschen, die andere von ihren eigenen Ansichten überzeugen und Gruppen von anderen Menschen um sich sammeln, bestimmen über die Leben ihrer Nachfolger und sind besonders erfolgreich in der Verbreitung ihrer Ideen. Diejenigen Menschen, die ihre eigenen Meinungen wie Viren ausstreuen und damit das Bewusstsein ihrer Mitmenschen infizieren, haben die Macht mehr als nur ein Leben zu lenken. Sie erlangen schon während ihrer Lebzeiten eine Art von dezentralem Bewusstsein und können aktiv miterleben wie Teile ihrer Software auf der Hardware anderer Menschen ausgeführt werden.
Natürlich sind diese Menschen nicht tatsächlich in der Lage, echten Sinn aus dem Nichts zu schaffen. Stattdessen können sie ihre Ideen vielmehr als sinnvoll verkaufen. Sie haben die Fähigkeit, ihre Ideen mit augenscheinlicher Sinnhaftigkeit zu schmücken und gutgläubige Menschen damit hinters Licht zu führen. An diesem Können ist objektiv gesehen nichts Verwerfliches. Vielmehr ist diese Tätigkeit oft sogar wünschenswert, wenn andere Menschen nicht die Kraft haben, eigene Ideen zu erzeugen und ihr Leben daher auf den Ideen anderer aufbauen. Man sollte sich jedoch bewusst machen, dass unsere Welt aus beiden Arten von Menschen besteht. Aus denen, die augenscheinlichen Sinn schaffen und verbreiten und aus denjenigen, die diesen absorbieren und den Erzeugern bereitwillig nachfolgen.
Die meisten der so erzeugten und verbreiteten Ideen sind wahrscheinlich biologisch motiviert. Da alle Menschen recht ähnliche Gefühle und Emotionen haben, ist es leicht, eben diese biologischen Gemeinsamkeiten auszunutzen und als Kanäle zum Verbreiten der eigenen Ideen umzufunktionieren. So wird zum Beispiel oft an das Mitgefühl und die Empathie anderer Menschen appelliert, obwohl solche moralischen Überlegungen objektiv gesehen keinerlei Relevanz besitzen. In anderen Fällen werden die Ängste und Sorgen der Mitmenschen identifiziert und es werden die dabei entdeckten Schwächen als Ansatzpunkte für eigene Programmatik ausgenutzt. Wieder andere Strategien basieren auf dem ähnlichen Humor verschiedener Menschen oder nutzen die unbeugsamen Triebe der Menschen, um ihnen neue Ideen aufzuzwingen oder freudigen Nachfolgern offen anzubieten.
Die ganze Zeit über ist man Überzeugungsversuchen dieser Art ausgesetzt und nimmt einen Großteil der dabei absorbierten Ideen sogar auch in die eigene Softwarestruktur mit auf. Je ausgefeilter und je tiefer die Ideen in ihrer augenscheinlichen Sinnhaftigkeit verwurzelt sind, desto präsenter werden sie in verschiedenen Gesellschaften und desto aggressiver und intoleranter werden die Diskussionen zwischen Parteien mit gegensätzlichen Ideen. Die Künstler der Erzeugung gesellschaftsfähiger Ideen schaffen es vielleicht sogar, ihre jeweilige Nachfolgerschaft aktiv gegeneinander aufzuhetzen und können auf diese Weise ganze Kriege auslösen, die unsere Geschichte und Gesellschaften nachhaltig prägen. Ein Entlarven solcher scheinbaren Sinnerzeuger erfordert einzig und allein ein kritisches Hinterfragen und ein immerwährendes Streben nach der Wahrheit. Wer diese Kriterien mitbringt und sich so an den großen Lenkern unserer Welt zu schaffen macht, sollte sich jedoch über die Folgen bewusst sein und sollte in der Lage sein, das dabei entstehende Vakuum mit der Verbreitung eigener Ideen zu füllen. Andernfalls würde eine solche Manipulation die Massen von Menschen, die von der Sinnerzeugung anderer abhängig sind und diese Aufgabe aus mangelnder Stärke nicht selbst übernehmen können nur in einen instabilen Zustand führen und einen unnötigen Zusammenbruch der Gesellschaft riskieren. Vorausgesetzt, ein solcher Zusammenbruch ist nicht das Ziel, so gilt es bei der Sinnerzeugung klug und mit Bedacht vorzugehen.