A battle

Bild von Hasan Almasi

Krieg den Trieben!

Seine Geschichte begann mit einem Besuch im Internet. Er war auf der Suche nach einem speziellen Video, wurde aber schon nach kurzer Zeit von den Vorschlägen des Suchalgorithmus abgelenkt. Es wurden Videos gezeigt, die ihn schon öfter beeindruckt hatten und bestimmte Erinnerungen in ihm hervorriefen. Als ihm ein neues Musikvideo bekannter Künstler vorgeschlagen wurde, nahm er sich einen Moment Zeit, um es anzusehen. Es war nichts Besonderes, der übliche Rhythmus eines erfolgreichen Pop-Tracks, der ihn zwar etwas stimulierte, aber trotzdem nicht zur Begeisterung brachte. Das sonst recht ereignislose Video zeigte eine leicht bekleidete Frau, die im Rhythmus der Musik aufreizend tanzte. Dieser Anblick hatte einen stärkeren Effekt als die Musik selbst, tief in ihm regte sich ein Verlangen, das er nur allzu gut kannte. Er beendete das Video und wollte wieder an die Arbeit gehen, doch das unterbewusste Verlangen wurde rasch stärker. Immer wieder tauchte die Frau aus dem Video vor seinem inneren Auge auf, er sah ihren ästhetischen Körper im Rhythmus der Musik und stellte sich vor, wie es wäre, sie in Wirklichkeit zu treffen. Er wehrte sich gegen diese ungewollte Ablenkung und versuchte die Gedanken an die Frau zu verdrängen, doch es war zu spät. Das Verlangen wurde ausgelöst von einem natürlichen Trieb. Es war seine biologische Veranlagung, auf solche Ablenkungen zu reagieren. Er konnte nicht mehr klar denken, spürte, wie er sich beim Gedanken an die tanzende Frau erregte und war gleichzeitig von sich selbst angewidert. Es war nicht der Gedanke an die Frau, der ihn störte. Er liebte und bewunderte die Formen des weiblichen Körpers und genoss dessen Anblick oft in vollen Zügen. Aber es war sein triebhaftes Dasein, das ihm nun missfiel. Es war seine Freiheit, die eingeschränkt wurde durch einen biologisch gegebenen Sexualtrieb. Sein Intellekt, der in seinen Augen kostbarste Teil seines Körper und Geists, wurde verdrängt von einem niederen Verlangen nach Fortpflanzung. Der faszinierendste Teil seines Körpers, seine klare Denkkraft, wurde wie von Geisterhand vollständig auf diese eine Frau umgeleitet. Seine ausgereifte Vorstellungskraft wurde dazu benutzt, die Frau vor seinem inneren Auge perfekt darzustellen. Sein Unterbewusstsein erschuf und optimierte ihren Körper, bis sie exakt so aussah und genauso tanzte, wie er es sich wünschte. Seine Selbstkontrolle wurde abgelöst durch das Regime eines tief sitzenden Triebs, gegen den er schon oft Kämpfe ausgetragen hatte. Es gab Zeiten, wo er dem Trieb bereitwillig nachgab und sich mit vollem Verstand den Freuden der Erotik hingab. Doch dieses Mal war es ein Hinterhalt, der Trieb brach aus dem Nichts hervor und wollte die Kontrolle über ihn vollständig übernehmen. Die Kraft seiner Vorstellung war bemerkenswert, die Bilder vor seinem inneren Auge hatten einen hohen Detailgrad und entsprachen exakt seinen eigenen Wünschen. Doch sie waren fehl am Platz, sie waren Teil eines Mechanismus, der ihn in seiner eigenen Freiheit einschränkte. Der mechanistische Teil in ihm wollte ihm vorgegeben, was zu tun sei.

Sein Herz pochte schneller und er spürte förmlich, wie sein Körper bestimmte Botenstoffe ausschüttete, die ihn weiter erregten. Es war eine chemische Waffe gegen seinen sonst so scharfen Verstand. Sein Intellekt wurde ertränkt in einem Gemisch von Hormonen. Er wurde von seinem eigenen Körper gelähmt und die Kontrolle über sein Denken wurde ihm entzogen. Schon fand er sich auf diversen Internetseiten, die seine Triebe weiter förderten. Der weibliche Körper wurde dort auf seine äußere Form reduziert, alles war darauf ausgerichtet, den Sexualtrieb des Betrachters möglichst gut zu befriedigen. Ziel war es, ein aus seiner Sicht niederes Bedürfnis zu stillen. Er verachtete sich selbst für das Betrachten der Videos. Er verachtete die Darsteller, die Sex oft als ein reines Mittel der Befriedigung interpretierten und dem Ganzen jegliche Schönheit entzogen. Viel zu oft wurde dieser Akt der körperlichen Nähe und Interaktion als ein mechanistischer Vorgang dargestellt. Die in den Videos gezeigten Menschen reduzierten sich selbst auf triebgeleitete Maschinen, die nur darauf aus waren, ihren eigenen Drang nach Fortpflanzung zu befriedigen. Natürlich gab es hochwertige erotische Seiten, auf denen die Schönheit des weiblichen Körpers betont wurde. Doch auf diese Seiten wurde er nun nicht gedrängt. Sein Intellekt war einem Trieb gewichen, der sich voll und ganz mit den mechanistischen Videos stillen ließ und genau das sah er selbst als seine Niederlage an. Er wurde dazu getrieben, sich die Videos anzuschauen und wusste irgendwann selbst nicht mehr, was er eigentlich wollte. Die Welt um ihn herum reduzierte sich auf dieses eine Verlangen nach dem Stillen der eigenen Bedürfnisse. Es wurde dunkel und nur der Bildschirm vor ihm erstrahlte in einem hellen Licht und bot ihm ein Portal in eben jene Welt des triebhaften Daseins. Sein Geist wurde ausgelöscht, sein Verstand versagte an einem biologischen Mechanismus, den er nicht mehr kontrollieren konnte. Er unterlag dem Bann seines widerwärtigen Selbst, einem Teil von ihm, der sonst so tief unter seinem Intellekt vergraben lag. Wie gern hätte er diesen Teil ausgelöscht und vollständig vernichtet. Wie gern hätte er ihn ersetzt mit einem komplexen Verlangen nach körperlicher Nähe, das nicht von Trieben geleitet wurde, sondern aus Liebe entsprang. Er wollte diesen inneren Trieb nach Fortpflanzung ersetzen durch einen Wunsch nach Sex, basierend auf dem Verlangen nach der Frau, die er liebte. Er wünschte sich, diesen Akt der Interaktion nicht als eine Befriedigung zu sehen, sondern viel mehr als die Vollendung einer zwischenmenschlichen Liebe. Er wollte diesen ekelerregenden und niederen Trieb ersetzen durch einen Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung. Sex sollte nicht dazu dienen, die eigenen Triebe zu befriedigen, sondern viel mehr die Wertschätzung an einem anderen Menschen ausdrücken.

Inmitten der Dunkelheit um ihn herum gab es nun einen Lichtblick. Es war, als wäre sein Verstand wie ein Phönix aus der Asche zurückgekehrt. Mit grellem Licht brach sein Intellekt die Ketten, die man um ihn gelegt hatte und widersetzte sich dem chemischen Gefängnis der Hormone. Mit einer zuvor unbekannten Macht stellte er sich seinem eigenen Trieb entgegen und eroberte Stück für Stück die Kontrolle über seinen eigenen Körper. Es war ein Kampf um die eigene Freiheit. Es war der Kampf gegen sein mechanistisches Selbst, gegen einen Teil von sich, den er nun vollständig entfernen wollte. Nie wieder würde er zulassen, dass niedere Bedürfnisse seinen Geist derart einschränkten. Nie wieder würde er sich darauf einlassen, dass die Formen des weiblichen Körpers und die körperliche Nähe zweier Menschen darauf reduziert wurden, einen rein biologisch vorgegebenen Vorgang zu befriedigen. Vielmehr betrachtete er Sex als einen Ausdruck des Intellekts, eine Möglichkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation, nicht geleitet von körperlichem Verlangen, sondern von intellektuellen Wünschen. Er sah seine eigenen Triebe als einen Fehler seiner Architektur, der ersetzt werden sollte durch ein viel höheres Verlangen nach Zuneigung und Liebe. Er würde seine Freiheit keinem biologischen Prozess unterordnen. Sein Verstand würde sich einem solch niederen Mechanismus nicht mehr beugen, er würde die Bürden seines menschlichen Daseins brechen und sich selbst weiterentwickeln. Er strebte nach einem Leben ohne körperliche Triebe, nach einem Leben, in dem die Schönheit und Macht der Erotik und die heißen Freuden des Sex allein aus rein Verstand geleiteten Wünschen sinnvoll genutzt wurden. Die Welt um ihn herum wurde wieder klar, der Tunnelblick auf seinen Bildschirm wich einer überlegten und ruhigen Betrachtung. Die Videos auf dem Bildschirm zeigten nun nur noch triebgeleitete Menschen, die ihre eigene Freiheit vollständig zur Befriedigung ihrer biologischen Mechanismen geopfert hatten. Nichts von dem Gezeigten hatte noch eine erregende Wirkung auf ihn, er betrachtete das Ganze viel eher mit einem Gefühl des Schmerzes. Es war ein Schmerz und eine Traurigkeit über all die hier gezeigten Menschen, Wesen eines doch so hohen Intellekts, die sich selbst verleugneten und sich stattdessen ganz ihren körperlichen Lüsten hingaben. Er verspürte eine Abneigung gegen die Natur des menschlichen Körpers. Die Seiten, die auf seinem Bildschirm gezeigt wurden, waren für ihn eine Sammlung von Menschen, die sich, ob wissentlich oder nicht, in ein Gefängnis sperren ließen und ihrem Verstand entsagten. Er verurteilte sie nicht, denn gerade hatte er die Macht dieses Gefängnisses am eigenen Leib erfahren. Aber es erzeugte ein Gefühl der Traurigkeit und ein Gefühl des Verlusts in ihm. Wie viel Potenzial, wie viel Liebe und gegenseitige Anerkennung gingen hier in einer reinen Befriedigung der eigenen Triebe unter? Wie viel Leid wurde erzeugt und wie viel Schönheit verschwand unter dem Regime des mechanistischen Verlangens? Wie viel Glück und Zufriedenheit gingen verloren, indem man Sex und der Schönheit des menschlichen Körpers nicht mit vollem Verstand nachging, sondern ihnen stattdessen unter der Bürde eines fremdgeleiteten Selbst begegnete? Seine Traurigkeit verwandelte sich in eine Bestimmtheit, die die Vormachtstellung seines Intellekts wieder für eine lange Zeit sichern würde. Er würde sich dem fremden Teil seines Selbst widersetzen, würde sich nicht wieder unterdrücken lassen und würde sich stattdessen selbst dazu entscheiden, wann er die körperliche Nähe als einen Ausdruck seiner Liebe zu einer wundervollen Frau gezielt einsetzte. Mit neuem Elan und einem noch viel schärferen Verstand als zuvor schloss er alle noch offenen Internetseiten und ging wieder an die Arbeit.